Was macht eigentlich Jesse? – ein amerikanischer Zenmönch aus der Schweiz im Tempel in Japan

Jesse Reiho Haasch, lebt seit sieben Jahren in Japan und praktiziert im Kotaiji Tempel in Nagasaki. Auf die Frage, wer er sei und woher er komme, lacht er nur und sagt, er wisse es manchmal selber nicht so genau. Im Tempel in Japan trägt er den Namen Reiho und in den USA und in Europa ist er bei den meisten als Jesse bekannt. Genauso wie er nicht nur einen Namen habe, sei er auch nicht nur aus einem Land. Das sei oft auch eine der ersten Fragen in Japan: «Woher kommst du?» Dann könne er weder sagen, dass er Amerikaner noch dass er Schweizer sei und antwortet jeweils: «Ich komme aus Bukkoku, aus dem Buddhaland.» Damit können die Japaner zwar überhaupt nichts anfangen, aber nur dahinter könne er voll und ganz stehen.»

Eine Reise beginnt: Von Wisconsin, USA nach Zürich

Jesse Haasch wurde in 1973 in Wisconsin, USA geboren, und hat sich schon als Teenager auf seiner Suche für verschiedene spirituelle und philosophische Wege interessiert: Hinduismus, Islam, Buddhismus, Sufismus, westliche Philosophie, etc. Dabei stiess er auch auf ein Buch über Zen, welches die Zazenhaltung beschrieb. Nach einer halben Stunde sass er schon auf dem Bett in der Zazenhaltung und wusste innerhalb der ersten paar Atemzüge «Das ist es!» Es sei etwas Vertrautes gewesen, wie nachhause zu kehren, gleichzeitig mit einem Gefühl einer Grösse und Freiheit, die er noch nie erlebt habe. Anschliessend sass er täglich, zuerst alleine zuhause bei der Familie, später in einem Studenten-Zimmer an der Universität in New Orleans. Rückblickend bereue er ein bisschen, am Anfang alleine praktiziert zu haben: «Es ist gut auch allein sitzen zu können, das habe ich gelernt. Aber man kann auch in eine falsche Richtung wachsen. Bei mir war das so. Die Praxis von Zazen ist etwas das man mit anderen, mit einem Meister tut.»

Eines Tages, als er etwa 19 Jahre alt war, zeigte ihm seine Freundin einen Flyer des Zentempels in New Orleans. Also ging er dorthin und besuchte eine Einführung. Die Erfahrung eröffnete ihm eine neue Dimension der Praxis und bald darauf zog er im Tempel ein. Er praktizierte anschliessend fünf Jahre dort, und wurde 1996 vom Meister Robert Reibin Livingston, einem alten Schüler von Meister Deshimaru, zum Mönch ordiniert. «Ich bin froh mit Robert Livingston angefangen zu haben. Er hat kaum über Zen-Texte unterrichtet, aber war unheimlich stark in den Grundlagen der Zenpraxis: die Haltung, die Atmung, die Konzentration im Hier und Jetzt und Mushotoku (Praxis ohne Absicht, ohne ein persönliches Ziel). Das war für ihn alles.»

1996 kam Reiho zum ersten Mal in den Haupttempel La Gendronniere in Frankreich. Das sei eine nachhaltige Erfahrung gewesen: eine so grosse und diverse Sangha und so viele so unterschiedliche Meister! Er sagt, dass es für ihn eine grosse Erleichterung gewesen sei, diese Vielfalt zu sehen, und nicht seinen Meister in New Orleans nachahmen zu müssen. Im Zentempel in Frankreich lernte er eine Schweizerin kennen und zog bald von New Orleans nach Zürich. Dort praktizierte er mit Michel Missen Bovay, einem anderen nahen Schüler von Meister Deshimaru zehn Jahre bis zu dessen Tod im Jahr 2009. «Was ich an Michel Bovay sehr schätzte, war die Tiefe und Breite seiner Unterweisung und sein ansteckender Enthusiasmus für den Weg. Es gab auch eine grosse und sehr dynamisches Sangha, so dass die alltägliche Praxis in Zürich zu einem wahren spirituellen Abenteuer wurde. Jahre, die ich nie vergessen werde.»

Auf nach Japan

In Japan war Reiho zum ersten Mal bereits 1995 als er seinen amerikanischen Meister Robert Livingston zu dessen Hossen-Shiki-Zeremonie begleiten durfte. 2007 ging er ein zweites Mal mit der Schweizer Sangha von Michel Bovay und blieb anschliessend einige Wochen dort in einem Kloster in Tokyo. Nach dem Tod von Michel Bovay konnte Reiho 2010 zum ersten Mal ein Ango – eine intensive, dreimonatige Praxisperiode – in Shogoji machen, einem alten Tempel tief in den Bergen im Süden von Japan. Es war eine sehr tiefe Erfahrung und dort wurde ihm klar, dass er diese Praxis fortsetzen wollte: sowohl diese Art des traditionellen Kloster-Lebens, als auch die Praxis unter der Leitung des Meisters jenes Angos, Hokan Saito Roshi.

Zurück in Europa war er zuerst etwas hin- und hergerissen zwischen der traditionellen Praxis in einem Tempel in Japan und seinem Leben in Zürich, mit Arbeit, Beziehung und der Praxis in der Mushin Zen Gruppe in Zürich, die er in der Zwischenzeit mit Zenmönchen der ehemaligen Sangha von Michel Bovay aufgebaut hatte. In den kommenden Jahren ging er jedes Jahr für ein weiteres dreimonatiges Ango in einen Tempel in Japan bis er schliesslich 2014 den Entschluss fasste, definitiv nach Japan zu ziehen, zuerst in den Tempel Zuioji, wo sein Meister Saito Roshi über 40 Jahre lange praktizierte. Nach etwa eineinhalb Jahren dort wurde sein Meister Saito Roshi zum Verantwortlichen für die Unterweisung (Godo) im Eiheiji-Tempel berufen, wohin ihm Reiho folgte und eineinhalb Jahre praktizierte. 2017 wurde sein Meister zum Abt von Kotaiji in Nagasaki berufen. Reiho folgte ihm auch dorthin, wo er bis heute praktiziert.

Kotaiji-Tempel: Ausbildungs- und «normaler» Tempel zugleich

In Japan gibt es drei Arten von Tempeln: Erstens, die beiden Haupttempel Eiheiji und Sojiji, die heute auch Ausbildungstempel sind, wo hunderte von Mönchen praktizieren. Zweites gibt es etwa 27 regionale Ausbildungstempel, wo man ein Ango machen kann, was für eine Ausbildung zu einem Abt notwendig ist. Drittens gibt es rund 15’000 «normale» Tempel, die sich in der Regel um eine religiöse Gemeinde (Danka) kümmern, ähnlich wie Kirchen bei uns in Europa.

Kotaiji ist einerseits einer der 27 Ausbildungstempel und andererseits auch einer der 15’000 normalen Tempel mit einer Danka. D.h. der Tempel bildet einerseits zukünftige Äbte von Tempeln aus und macht andererseits diverse Zeremonien und Seelsorge für die lokale Gemeinde. Von dieser erhält der Tempel auch Fuse (finanzielle Unterstützung), um den Unterhalt für den Tempel und die Mönche zu bezahlen.

Nagasaki liegt ganz im Süden der Hauptinsel Japans. Der Tempel Kotaiji liegt zwar mitten in der Stadt, es ist aber doch sehr ruhig. Zudem ist der Tempel relativ klein: Neben den etwa neun Mönchen mit festen Verantwortungen, gibt es je nach Jahr 5-10 Angoshas, d.h. Mönche, die ihre in der Regel einjährige Ausbildung zum Abt eines Familientempels dort absolvieren.

Nachdem Reiho hier 2017 selbst ein Ango absolviert hatte, wurde er einer von den Verantwortlichen, konkret wurde er Sekretär seines Meisters und Ansprechpersonen und Übersetzer für ausländische Mönche. Da Kotaiji einer der wenigen japanischen Tempel ist, wo auch Ausländer ein Ango machen können, hat er immer etwas zu tun: Vor der Zeit von Corona waren die Hälfte der Angoshas Ausländer und die Unterweisung findet ausschliesslich auf Japanisch statt.

Wie praktiziert man in einem japanischen Zentempel?

Ein typischer Tagesablauf in Kotaiji sieht folgendermassen aus: Aufstehen um vier Uhr, 4.30 Uhr eine Periode Zazen, 5.30 Uhr Morgenzeremonie, 6.30 Uhr essen mit Schalen, 7.30 Uhr Putzsamu, 8.30 informeller Tee/ Kaffee. Ab neun Uhr gibt es dann etwas Variation: z.B Zeremonien für die Danka im Tempel oder in den Häusern von Mitgliedern der Danka. Manchmal gebe es etwa 20 solcher Zeremonien an einem Tag: zwei oder drei Zeremonien im Tempel und einige Mönche fahren auf ihren Scootern je zu Mitgliedern der Gemeinschaft und machen dort Zeremonien in deren Häusern und Wohnungen. Wenn es mal keine solche Zeremonien gibt, dann machen alle Samu im Tempel wie Kochen, Putzen, Übersetzen. Um elf Uhr ist die Mittgaszeremonie und um 11.30 Uhr das Mittagessen. Anschliessend gibt es etwas Zeit für «persönliches Studium» – wie man in Europa eine «Siesta» nennt. Ab 13.30 Uhr gibt es dann wieder Samu bzw. wieder Zeremonien für die Danka im Tempel und extern. Um 16 Uhr ist die Abendzeremonie und um 17 Uhr das Abendessen. Anschliessend gibt es etwas unstrukturierte Zeit (Bad, Lesen, Wäsche machen, etc.). Bis 21 Uhr gibt es dann eine oder zwei Perioden Zazen und ca. um zehn Uhr ist dann Lichterlöschen.

An jedem 11. des Monats findet ein eintägiges Sesshin statt und zweimal im Jahr gibt es ein siebentägiges Sesshin: das Rohatsu Sesshin im Dezember und das Sesshin zu Buddhas Nirwana im Februar.

Das Leben in der Gemeinschaft

Im Kotaiji-Tempel gibt es zwei Meister: einerseits den Abt Hokan Saito Roshi, der Meister von Reiho, und andererseits den Verantwortlichen für die Unterweisung, den Godo Giho Munakata Roshi. Diese zwei Menschen sind zwei wichtige Gründe, warum Reiho sehr froh ist, dort zu sein. Saito Roshi, inspiriere ihn durch seine volle Hingabe für die Lehre von Dogen, seinen tiefen Glauben an den Weg des Mönchs und seine Demut – selbst als Abt sei er im Herzen und Handeln immer noch wie ein einfacher Mönch. Der zweite Meister Kotaijis, Munakata Roshi, unterweise vor allem durch sein Tun: Er sage nicht sehr viel, lache dafür umso mehr und sei für Reiho einer der glücklichsten Menschen, den er kenne. «Er hat immer ein Lächeln im Gesicht und macht mit seinen 72 Jahren immer noch am meisten Samu von uns allen.» Allein durch sein Beispiel lerne Reiho sehr viel. Und wenn man ihn doch etwas über das Dharma frage, antworte er aus einer beeindruckenden Tiefe.

Neben den beiden Meistern gibt es sieben weitere «Lehrer», er inklusive, die je unterschiedliche Rollen übernehmen: Tenzo, Ausbildung der Angoshas, Büroarbeit, Übersetzung, Betreuung der Danka, etc. und schliesslich gibt es die Angoshas, die Mönche in Ausbildung. Derzeit, auch wegen der Corona-Pandemie, gibt es nur deren zwei.

Das Leben in einem Zentempel hat auch seine schwierigen Seiten, sagt Reiho: «Ruhezeit ist im Tagesablauf eingebaut, aber einen wirklich freien Tag gibt es nie. Gerne würde ich mich auch freier ausserhalb des Tempelgeländes bewegen können, in der Stadt oder in Japan. Wie überall gibt es auch in einem Zentempel Leute, die man gerne hat und Leute, die man weniger gerne hat. Das ist auch gut so, dass man über seine Zu- und Abneigungen hinausgehen kann. Aber es ist manchmal echt anstrengend, umso mehr weil man ständig auf engem Raum zusammenlebt und sehr wenig Privatsphäre hat.»

Eine Ausbildung ohne Diplom

Vor zwei Jahren hat Reiho eine vierjährige Ausbildung begonnen, um so etwas wie «Kloster-Lehrer» zu werden. Er schickt aber gerade nach, dass das sehr vereinfacht ausgedrückt sei und er nach der Ausbildung weder ein Diplom noch einen Titel habe und auch nicht auf der Suche nach einer Lehrerstelle sei. Für ihn ist die Ausbildung vielmehr eine gute Gelegenheit, in der Vielfalt der japanischen Tempel und Meister einzutauchen. Im Rahmen der Ausbildung verbringt er jedes Jahr während drei Monaten jeweils einige Wochen in verschiedenen Tempeln. So wie die Mönche in früheren Zeiten von Meister zu Meister reisten, ist das heute Teil dieser speziellen Ausbildung für engagierte Mönche. Und das sei sehr spannend, meint Reiho. Auch die anderen Teilnehmer – allesamt aus unterschiedlichen Tempeln – seien inspirierend und haben eine tiefe Lust zu praktizieren, was sonst eher selten in Japan sei. Zudem muss er selber einstündige Teishos (Vorträge) vor seinen Mitschülern und den Meistern halten, inklusive Feedback. Das alles geschieht selbstverständlich auf Japanisch. Das sei zwar herausfordernd aber eben auch eine «fantastische Gelegenheit», wie er sagt. Zwei Jahre sind nun vorüber aber wegen der Corona-Pandemie wurde ein Jahr pausiert und es folgen nochmals zwei Jahre.

Und was bringt die Zukunft?

Reiho ist mittlerweile sieben Jahre in Japan und es ist wie er selber sagt auf die eine oder andere Art auch bequem, wenn man sich mal eingerichtet hat, vielleicht sogar zu bequem. Er meint darum, dass das Leben hier im Tempel in Japan nicht auf Dauer das sei, wonach er suche. Er erzählt, wie er in den letzten Jahren auch einige Male zu verschiedenen Gelegenheiten in Europa war: für Sitzungen, Zeremonien, Ausbildungs-Sessionen, und zwei Mal, um ein Sesshin in der Schweiz zu leiten. Diese Besuche und Sesshins sind es denn auch, die Reiho wirklich berühren. «Obwohl das Zen in Japan definitiv nicht ‹tot› ist, wie man es in Westen manchmal vorschnell behauptet, bin ich am glücklichsten, wenn ich mit der Deshimaru-Sangha in Europa an einem Sesshin sitze. Es bereitet mir am meisten Freude, wenn ich mit anderen etwas teilen kann. Mir ist von diesen wirklich tollen Meistern wie Robert Livingston, Michel Bovay und den Meistern hier in Japan etwas gegeben worden, das ich gerne weitergeben möchte. Das ist wirklich eine super Sache und gerne möchte ich so etwas tun.»

Wie konkret eine mögliche Zukunft zurück in Europa aussehen könnte, kann er aber derzeit noch nicht sagen. Die Zeit wird es dann schon zeigen: «Auf irgendeine Weise möchte ich einfach weiter den Weg zusammen mit dieser grossen Sangha gehen. ‹Wo denn?› fragt man mich oft. In Bukkoku, dem Land von Buddha!

Bodensee-Sesshin 2021 voraussichtlich mit Jesse Reiho Haasch
Vom 24.-26. September leitet voraussichtlich Jesse Reiho Haasch zum dritten mal das Bodensee-Sesshin auf der Wartburg, das dieses Jahr vom Zen Dojo St. Gallen organisiert wird. Weitere Informationen dazu folgen auf www.zendojos.ch

Interview: Philipp Funk

4 Antworten auf „Was macht eigentlich Jesse? – ein amerikanischer Zenmönch aus der Schweiz im Tempel in Japan“

    1. Danke Christian für deinen Kommentar und lieben Gruss zurück aus Zürich. Hoffentlich bis bald mal wieder auf einem Sesshin. Philipp

  1. Herzlichen Dank für diesen ungewöhnlich, zurückhaltenden und unspektakulären und deshalb mit einer stillen Freude umwobener Beitrag. Hier ist Praxis, wunderschön…

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